Hilde wurde 1945 vertrieben

Hilde

vertriebene Frau

Hilde ist 86 Jahre alt und kommt ursprünglich aus Trienke, Ostseebad Kolberg in Pommern. Dort hat sie auf dem Rittergut des Barons von Gerlach gewohnt. Ihr Vater hat dort als Vorarbeiter in der Landwirtschaft gearbeitet. Es gab nur geringen Lohn, aber dafür standen ihm eine freie Wohnung, sowie Gartenland zur Kleinviehhaltung zur Verfügung.

Im Spätherbst 1944 wurde er dann zum Volkssturm eingesetzt. Dabei wurde er durch einen Granatsplitter am Hinterkopf verletzt und in ein Lazarettschiff nach Saßnitz (Rügen) gebracht. Von dort kam er in englische Gefangenschaft und im Sommer 1945 dann als Leiharbeiter nach Ovenhausen. Die Hilde und der Rest der Familie wussten zunächst nichts von seinem Schicksal. Ein Vorbild für sie war während der gesamten Zeit ihre Mutter, die trotz eines Herzleidens mit ihren damals 39 Jahren alleine für die Kinder sorgte.

Im Jahr 1945, als Hilde noch keine 14 Jahre alt war, kamen die russischen Armeen nach Berlin und durchstreiften Pommern, wobei sie Häuser plünderten. Im März wurde Kolberg angegriffen und die Dorfbewohner mussten ihre Häuser für die russischen Soldaten verlassen und zusammen in 2 Häuser ziehen. Während dieser Zeit mussten die Frauen die gesamte Arbeit im Dorf erledigen, da die Männer entweder als Soldaten im Krieg oder im Volkssturm eingezogen worden waren oder für Zwangsarbeit verschleppt wurden. Hilde konnte aufgrund der Situation ihre Schule nicht beenden und keine Lehre abschließen. Erst nach der Einnahme Berlins und dem Abzug der russischen Armee konnten die Bewohner zurückkehren.

Nachdem Russland später Ostpolen annektierte, kamen die Polen in den Kreis Kolberg und die Bewohner bekamen die Anweisung, Wohnungen für sie zu schaffen. Wenig später mussten sie jedoch das Land verlassen, sie wurden dann mit einem Flüchtlingstransport nach Kolberg gebracht und sollten jenseits der Oder weitergeleitet werden. Nur die Fachkräfte durften zunächst auf dem Gut zurückbleiben, um sich um die Landwirtschaft zu kümmern.

Erst im Jahr 1946 bekam Hildes Mutter die Nachricht, dass ihr Vater noch am Leben ist und alle „[warteten] mit einem weinenden und einem lachenden Auge […] auf die Ausreise.“ Am 11. August 1947 war es dann soweit. Hilde beschreibt den Transport folgendermaßen: „Dann mussten wir zum Sammeltransport nach Kolberg hin […] und dann wurden wir in Viehwagen verladen. […]“ Sie wurden zunächst für 14 Tage in ein Lager gebracht, wo es nur 2 Baracken für Kleinkinder gab. Alle anderen schliefen dann im Freien auf ihrem Gepäck, damit nichts gestohlen wurde. Danach wurden sie mit einem Güterzug, der 2km entfernt stand, nach Berlin gebracht. Der Zug war schwer zu erklimmen, da es noch keinen fertigen Bahnhof und keine Leitern gab. Pausen wurden während der Fahrt nur kurz gemacht und manche schafften es nicht rechtzeitig zurück auf den Zug. Hilde meint, sie sieht „heute noch den winkenden älteren Mann, der es nicht mehr geschafft hat, den anfahrenden Zug zu erreichen.“

In Berlin wurden sie dann sortiert und geordnet und Hilde kam mit ihrer Familie nach Teltow, wo sie in leerstehenden Zimmern untergebracht wurden. Erst nach einigen Tagen wurden die Familie registriert und kamen mit einem Einweisungsbeschluss zu einer Familie in Blankenfelde. Sie lebten dort in zwei Zimmern mit einer Küche und Hildes Mutter “hatte von den Federbetten […] Rucksäcke genäht“. Nun konnten sie erst einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen und bekamen im Oktober 1947 mit Bemühungen des Vaters eine Zuzugsgenehmigung.

Auf dem Weg zu Hildes Vater kamen sie in ein Lager in Friedland, wo sie zunächst entlaust und untersucht wurden. Am 14. Oktober 1947 kamen sie dann am Fürstenberger Bahnhof an und Hildes Bruder Otto machte sich auf den Weg nach Ovenhausen, um sich mit dem Vater zu treffen.

In Ovenhausen kamen sie dann zunächst bei dem Bauern unter, bei dem ihr Vater tätig war. Sie hatten dort nur ein Zimmer mit zwei Betten für 4 Personen. Hilde begann bei dem Bauern im Dorf zu arbeiten, auf dessen Hof sie wohnte. Ihr Bruder Otto beendete unterdessen seine Lehre bei einer Tischlerei in Brenkhausen und bekam dort seinen Gesellenbrief, da er diesen in der Heimat wegen des Krieges nicht mehr bekommen hatte.
Bis 1950 zog Hildes Familie drei Mal um und bekam schließlich eine Bleibe mit Küche, Schlafzimmer und Abstellraum. Durch den Willen und die harte Arbeit von ihrem Vater und Bruder konnten sie im Jahr 1955 ein Eigenheim beziehen.

Die Einheimischen waren damals nicht gut auf Flüchtlinge zu sprechen.
„Flüchtlinge waren nicht willkommen. […] Flüchtlinge und Kartoffelkäfer, die werden wir nicht mehr los. Sowas wurde gesagt.“, erinnert sich Hilde. Trotz der gleichen Sprache hatten sie einen anderen Dialekt. Hildes Mutter sprach zum Beispiel mit ihrer Tante nur Plattdeutsch. Und Hilde sagt dazu: „Ich mache heute noch Fehler, dass ich das noch nicht mal richtig alles gelernt hab […] Aber trotzdem, man ist ganz gut durchgekommen.“

Während der folgenden Jahre war Hilde zunächst bei dem Bauern tätig, wechselte dann jedoch zu einer Bäckerei nach Höxter, wo sie 35 anstatt 25 Mark verdiente. Auf den Rat einer Bekannten hin zog sie später für 2,5 Jahre nach Solingen im Rheinland und arbeitete dort in einem Arzthaushalt als Kindermädchen. Sie lebte in dem Haus wie bei einer richtigen Familie und meint, dass es die beste Arbeit in ihrem Leben war. Ihr Wunsch war es immer noch einmal zurück zu fahren und diesen Wunsch erfüllten ihr ihre Kinder und Enkel bereits zwei Mal. Der Sohn der Familie, der damals erst fünf Jahre alt war, wohnt nun in dem Haus und hat Hilde bei ihrem Besuch herzlich begrüßt und sie noch einmal herumgeführt.

Ihren Mann lernte Hilde kurz vor ihrer Zeit in Solingen kennen. Wegen ihm kam sie damals zurück, denn als sie in Ovenhausen Urlaub machte kam er zu ihr nach Hause. „Abends war er dann unterm Fenster und hat geflötet. […] Und naja, das war immer mein Wunsch, dass ich den gerne leiden mochte und so weiter. Dann habe ich da oben gekündigt. […] Und dann hat sich das so entwickelt, dass wir dann auch später geheiratet haben.“, sagt Hilde über ihren späteren Mann und die Rückkehr nach Ovenhausen. Nach ihrer Hochzeit hat sie sich auch zum ersten Mal richtig Zuhause gefühlt, denn „vorher fühlte man sich immer so, dass man ausgenutzt wurde.“

Hildes Wunsch war es eigentlich Friseurin oder Schneiderin zu werden. Da sie aber keinen Schulabschluss hatte, konnte sie auch keine Lehre beginnen. Sie konnte nach der Flucht mit 16 Jahren hier nicht wieder zur Schule gehen, da ihr einerseits die Jahre an Stoff gefehlt haben und sie andererseits nirgends bleiben konnte. Ihre Eltern hatten selbst keinen Platz und nur wenig Geld, weshalb sie immer arbeiten musste.

Ihre Zukunft hätte sie sich niemals so vorgestellt. Heute lebt sie in einem eigenen Haus, hat einen Hund, Kinder und sogar 3 Enkelkinder. Nach ihrer Hochzeit wollte ihr Schwager das Elternhaus ihres Mannes übernehmen und meinte dafür baut er ihnen ein neues Haus auf dem 7 Morgen großen angrenzenden Land. Hilde begann nach ihrer Zeit in Solingen und nach einigen Aushilfstätigkeiten in einer Gummifädenfabrik zu arbeiten. Ihr Mann arbeitete zunächst als Bäcker und später als Straßenwärter und verdiente dort nur wenig. Er gab ihr die Aufgabe sich um die Finanzen zu kümmern und meinte damals zu ihr: „Hier haste das Portemonnaie. Seh zu, dass du klarkommst und mach keine Schulden.“ Auf dieses Vertrauen und diese wichtige Aufgabe war sie sehr stolz und fühlte sich von ihrem Mann respektiert und ernstgenommen. Trotz der geringen Einkünfte haben Hilde und ihr Mann Geld für ihre Kinder angespart, damit diese später eine Rücklage hatten.

Für Hilde war es wichtig, dass die Leute sie als gescheit angesehen haben obwohl sie als Flüchtling in den Kreis Höxter gekommen ist. Sie findet, dass man glücklich ist, wenn man alles geschafft hat, was man erreichen wollte und wenn man genug Geld hat, um sich keine Sorgen zu machen.

Als Weisheit würde sie ihren Enkeln mitgeben, dass man „immer ehrlich ist“. Und anderen jungen Frauen rät sie zum stark sein immer daran zu denken, dass es nun mal weitergehen muss.